Helene Stucki, 55, hat der Pflegebranche ;definitiv den Rücken gekehrt. Karin Hofer / NZZ
Alters- und Pflegeheime,  Erlebtes

«Bis zur Pensionierung hätte ich das nicht ausgehalten» – warum Helene Stucki den Pflegeberuf nach dreissig Jahren verlassen hat

In der Corona-Krise sind Pflegefachleute gefragter denn je. Doch die Branche hat ein schlechtes Image. Eine Aussteigerin und drei Einsteiger erzählen, was sich in ihren Augen verbessern müsste.

In den Lauben der Berner Altstadt klebt der Nebel an den Mauern. Helene Stucki ist mit dem Velo unterwegs, sie wohnt in der Nähe, «schon ewig», wie sie sagt. Aufgewachsen ist die 55-Jährige mit den grauen Locken auf einem Bauernhof in einem Vorort von Bern. Das Soziale sei in der Familie immer wichtig gewesen, erzählt sie. Nach einem Welschlandjahr, das sie wegen Heimwehs nach der Hälfte abbrach, wurde sie Kinderkrankenschwester.

Achterbahn der Gefühle

Dreissig Jahre hat die fitte Frau mit kürzeren Unterbrüchen in der Pflege gearbeitet, nicht nur mit Kindern, sondern auch mit Erwachsenen. Sie stach Infusionen, half Patienten bei der Intimpflege, brachte Kamillentee und Schlaftabletten ans Bett. Und sie ist nie stehengeblieben. Stets hat sie Weiterbildungen absolviert, die Funktionen gewechselt, hin und wieder eine neue Stelle angenommen.

Ein ganz normaler Werdegang, könnte man meinen. Und doch hört es sich an, als sei es eine Achterbahn der Gefühle gewesen. «Bis zur Pensionierung hätte ich das nicht ausgehalten», sagt sie. Die psychische und physische Belastung empfand sie als hoch. Vor allem die Nachtdienste und die Schichtwechsel seien auf die Dauer ermüdend gewesen, sie hätten ein normales soziales Leben fast unmöglich gemacht.

«Je älter man wird, desto weniger gut verträgt man die unregelmässigen Arbeitszeiten», sagt Helene Stucki. Doch auch die Anforderungen im Spitalalltag hätten sich verändert. «Früher blieben Patienten länger in der Klinik, man konnte eine Beziehung aufbauen – heute ist alles schnelllebiger. Der Spardruck verschärft die Situation. Man trägt als Pflegefachperson die Verantwortung für immer mehr Patienten.»

Vor sechs Jahren, mit 49, ist Helene Stucki definitiv aus ihrem erlernten Beruf ausgestiegen. In diesen Tagen denkt sie oft an ihre Kollegen in der Pflege, die in der Corona-Krise stark gefordert sind. Deren Arbeit nimmt sie gerade jetzt als besonders sinnstiftend wahr. Zurück ins Spital wünscht sich Stucki trotzdem nicht.

Wechsel nach der Sinnkrise

Peter Kienzle, Merita Miftari und Chris Zwahlen haben im September ihr Studium an der Höheren Fachschule am Careum-Bildungszentrum in Zürich begonnen. Nach der dreijährigen Ausbildung sind sie diplomierte Pflegefachleute HF. Theorie und Praxis ergänzen sich im Studium: Peter Kienzle, 50, ist in einem städtischen Alterszentrum angestellt, die 34-jährige Merita Miftari im Universitäts-Kinderspital Zürich. Und Chris Zwahlen, 30, arbeitet in der Schulthess-Klinik.

Die drei sind mit viel Enthusiasmus ins Studium gestartet, doch naiv sind sie nicht. Sie sind Quereinsteiger, wie die Mehrheit der Absolventen ihres Jahrgangs am Careum. «Corona gab mir den letzten Kick, mit der Ausbildung zu starten», sagt Zwahlen. Er hatte nach der Matur begonnen, Humanmedizin zu studieren, doch nach einem Jahr brach er ab. «Ich traute mir damals nicht zu, Arzt zu sein. Die Faszination, welche die Medizin auf mich ausübt, liess mich aber nicht los.» Nach einem Studium der Lebensmittelwissenschaften und einer Karriere in der Industrie besann er sich darauf zurück. «Nun bin ich dort, wo ich hinwollte», resümiert er.

Auch Peter Kienzle hat Karriere gemacht. Doch irgendwann erlebte der Grafikdesigner eine Art Sinnkrise. Zudem kam sein Vater ins Pflegeheim und wurde palliativ gepflegt, bis er starb. Für Kienzle war das eine beeindruckende Zeit. «Ich möchte der Gesellschaft etwas zurückgeben», sagt er. Dazu kam, dass ihm die körperliche und praktische Arbeit in seinem früheren Berufsalltag zunehmend fehlte. «Eine Tätigkeit in der Pflege ist nachhaltig. Ich werde meinen neuen Beruf bis zur Pensionierung ausüben können, denn der Bedarf ist riesig.»

Merita Miftari schliesslich hat einst eine KV-Ausbildung absolviert, arbeitete danach in der Gastronomie, reiste viel und war zuletzt in einem Kinderhort angestellt. «Ich liess mir Zeit, mich beruflich zu finden», erklärt sie. «Schliesslich fühlte ich, dass die Pflege das Richtige ist für mich.»

Burnout und Stress

Helene Stucki, die dreissig Jahre lang in Spitälern tätig war, hat nun ebenfalls ihre Berufung gefunden. Seit sechs Jahren ist sie in einer Berner Klinik in der sogenannten Kodierung angestellt: Sie leistet Hintergrundarbeit, bei der ihr medizinisches Wissen gefragt ist. Auf der Grundlage der Kodierung, für die ein Team aus Medizinern und erfahrenen Pflegefachkräften zuständig ist, werden die Fallpauschalen verrechnet.

«Heute gehe ich jeden Tag gerne arbeiten», sagt sie. «Mein Leben ist komplett anders als früher. Ich merke jetzt, wie viel Energie ich ohne die ständigen Schichtwechsel habe.»

Stucki ist kein Einzelfall. Jedes Jahr geben rund 2400 Pflegefachpersonen ihren Beruf auf – wegen Burnout und Stress, wegen Unter- oder Überforderung. Gleichzeitig werden jährlich nur etwa 43 Prozent der Pflegefachleute ausgebildet, die es in der Schweiz braucht. Diese Zahlen listet die Pflegeinitiative auf, die in den eidgenössischen Räten hängig ist. Die Volksinitiative «Für eine starke Pflege» verlangt unter anderem höhere Ausbildungslöhne, die Förderung der Weiterbildung und Massnahmen für eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie.

Kritik an der Ausbildung

Dass sich die Situation weiter zuspitzt, ist absehbar. Der Gesundheitsökonom Willy Oggier warnt jedoch davor, dem Mangel an Fachpersonal mit dem Giesskannenprinzip zu begegnen. «Die heutige Ausbildung zielt an der Praxis vorbei», sagt er. «Den Studierenden wird ein Pflegebild vermittelt, das mit der Realität wenig zu tun hat. Der Grund liegt unter anderem darin, dass viele Dozenten seit Jahrzehnten nicht mehr am Krankenbett arbeiten und nicht wissen, was dort abläuft.»

Die Ausbildung müsse flexibler und vor allem praxisbezogener werden, fordert Oggier. Zukünftig müssten die Funktionen, die es in der Pflege brauche, klarer analysiert und definiert werden. «Die Ausbildung sollte sich aktuellen Entwicklungen wie dem Trend zur ambulanten Versorgung, zu Telemedizin, Robotik und Digitalisierung anpassen.» Auf dieser Grundlage könnten in der Praxis funktionsbezogen punktuelle Lohnanpassungen erfolgen, sagt der Ökonom.

Ruth Aeberhard, die Bereichsleiterin Höhere Fachschulen und Geschäftsleitungsmitglied am Careum-Bildungszentrum, weist diese Kritik differenziert zurück. Sie sagt: «Der Rahmenlehrplan wird regelmässig mit Fachleuten aus der Praxis überprüft. Zudem arbeiten viele Dozenten neben ihrer Lehrtätigkeit weiterhin in der Praxis eines Gesundheitsbetriebs. Andere absolvieren regelmässig Stages, um am Puls zu bleiben.»

Aeberhard stimmt zu, dass die Flexibilität wichtig sei. Die Digitalisierung sei auf allen Stufen der Ausbildung bereits heute essenziell; Themen wie Telemedizin oder Robotik würden in der Weiterbildung berücksichtigt.

Chancen dank Corona?

Der Neu-Student Chris Zwahlen führte als Abteilungsleiter in der Lebensmittelindustrie ein Team von 70 Mitarbeitenden und hatte einen entsprechenden Lohn. Seine finanziellen Ansprüche muss er jetzt nicht nur während des Studiums, sondern auf längere Sicht zurückschrauben. Er sagt aber: «Die Löhne sind in meinen Augen nicht das Hauptproblem für die hohe Ausstiegsrate bei den Pflegeberufen. Es ist ein Irrglaube, dass alle in der Pflege schlecht verdienen.»

Seine Mitstudenten Peter Kienzle und Merita Miftari pflichten ihm bei. Das Lohnniveau sei je nach Einrichtung, in der man angestellt sei, recht unterschiedlich. Als grösseres Problem sehen sie die ständige Verfügbarkeit, die von vielen Arbeitgebern verlangt werde. So werde ganz selbstverständlich angenommen, dass Überstunden geleistet würden.

Drei Monate sind seit Studienbeginn verstrichen, der Optimismus der Quereinsteiger ist weiterhin gross. Sie sind überzeugt, dass im Zuge der Corona-Pandemie die Systemrelevanz ihres Berufsstands einer breiten Öffentlichkeit bewusst wird. Peter Kienzle sagt: «Wir hoffen alle, dass sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Die Chancen dafür stehen jetzt so gut wie lange nicht mehr.»

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