
Besuchsverbot im Pflegeheim: «Man vergisst schnell, dass man eingeschränkt war»
Im Frühling waren in Pflegeheimen keine Besuche erlaubt. Inzwischen wurde das Besuchsverbot gelockert und ein Stück Alltag ist zurück.
Es waren lange sechs Wochen. Für die Bewohnerinnen und Bewohner im Pflegeheim, für die Angehörigen und für die Mitarbeitenden. Einfach war das Besuchsverbot für niemanden von ihnen. Fünf Monate später ist ein Stück Alltag zurück. Die AZ war im Alterszentrum Suhrhard in Buchs zu Besuch.
Die Eingangstüre des Alterszentrums Suhrhard in Buchs öffnet sich. Im Zwischenbereich vor der nächsten Tür steht ein Desinfektionsmittelspender. Ausserdem liegt ein Stapel Formulare bereit. Externe müssen sich registrieren. Kommt eine Person am nächsten Tag erneut ins Pflegeheim, muss sie ein neues Formular ausfüllen. Da ist Geschäftsführerin Ursula Baumann strikt, auch wenn das einige Angehörige, die täglich zu Besuch kommen, anfangs nicht verstanden. Die Formulare werden zwei Wochen aufbewahrt. Sollte es zu einem Coronafall kommen, ist gewährleistet, dass Besucherinnen und Besucher kontaktiert werden können.
Das war vor Corona anders. Aber im Vergleich zum Frühling ist es eine kleine Einschränkung. Damals waren sechs Wochen lang alle Besuche verboten; ausser jemand lag im Sterben.
«Für Mami war das Besuchsverbot ganz schlimm»
Die sechs Wochen seien ihr ewig vorgekommen, sagt Josipa Sola, die an diesem Tag ihre Mutter im Suhrhard besucht. Bis das Besuchsverbot kam, hat sich die Familie so organisiert, dass jeden Tag jemand mit der Mutter an die frische Luft ging. Von einem Tag auf den anderen war das nicht mehr möglich. «Für Mami war das Besuchsverbot ganz schlimm, obwohl die Zivilschützer jeden Tag mit ihr nach draussen gingen», erzählt die Tochter. In Kontakt geblieben sind sie über Videoanrufe. Ihre Mutter wisse inzwischen sogar selbst, wie ein Videoanruf funktioniere. «Aber es ist kein Ersatz. Die Nähe fehlt einfach», sagt Josipa Sola. Umso schöner sei es, dass Besuche inzwischen wieder möglich seien.
Besuchsregeln sind nicht überall gleich
Bei der Gestaltung des Besucherreglements sind die Pflegeheime frei. Der Kanton schreibt ihnen einzig vor, dass sie über ein Schutzkonzept verfügen müssen. Der Spital- und Heimverband Vaka stellt ein Musterschutzkonzept zur Verfügung, auf dem jede Institution ihr individuelles Schutzkonzept aufbauen kann. Mit dem Schutzkonzept soll das Infektionsrisiko auf ein Minimum reduziert werden. Dabei geht es um Massnahmen wie das Contact-Tracing, das Abstandhalten, die Händehygiene oder das Maskentragen.
Während es in einigen Pflegeheimen fixe Besuchszeiten gibt, dürfen Besucherinnen im Suhrhard kommen und gehen, wann sie wollen. Auf den oberen Etagen, wo die Zimmer sind, müssen Mitarbeitende und weitere Personen einen Mundschutz tragen. Familienangehörige dürfen im Moment selbst entscheiden, ob sie dort eine Maske tragen oder nicht. Im Erdgeschoss hingegen, wo sich auch das Restaurant befindet, gilt keine Maskenpflicht – sofern der Mindestabstand eingehalten wird.
Turnen und handwerken in kleineren Gruppen
In einem Raum im Erdgeschoss trifft sich an diesem Vormittag die Handarbeitsgruppe. Am langen Tisch sitzen vier Frauen. Zwischen ihnen ist jeweils ein Stuhl leer. Sie werkeln konzentriert; nähen Seerosen aus Stoffresten und schneiden alte Kalenderblätter so zu, dass sie später daraus Couverts falten können.
Silvia Beyeler ist zuständig für die Alltagsgestaltung im Alterszentrum. Sie unterstützt die vier Frauen, wenn sie Hilfe brauchen; reicht ihnen Material, leitet sie an. Sie trägt einen Mundschutz. Die vier Frauen am Tisch haben sich daran gewöhnt. Aber sie hätten auch nichts dagegen, wenn man bald wieder das ganze Gesicht sehen würde und nicht mehr alles an den Augen ablesen müsste. Die Person unter der Maske erkennen sie trotzdem. «An der Stimme, an der Frisur oder an der Figur», erklärt eine Bewohnerin am Tisch.
Miteinander nähen, rätseln oder singen war auch auf dem Höhepunkt der Coronapandemie im Frühling möglich. «Wir haben immer versucht, den Bewohnerinnen und Bewohnern den Alltag zu ermöglichen, den sie kennen», sagt Ursula Baumann. Bewohnerinnen und Bewohner verschiedener Abteilungen wurden aber in dieser Zeit strikt getrennt. Gemeinsam gesungen haben sie nur noch auf dem Wohnbereich, geturnt und gegessen in kleineren Gruppen mit viel Abstand.
«Ich war viel allein auf dem Areal spazieren»
Spaziergänge draussen auf dem Areal waren jederzeit möglich. Eine Frau erzählt, dass sie sich während der ganzen Zeit mit einer Kollegin aus dem gleichen Wohnbereich zum Spazieren getroffen hat. «Ich war auch viel allein auf dem Areal spazieren. Und es hat mich nie jemand zurückgehalten. Das habe ich genossen.»
Die Seniorinnen und Senioren aus dem Betreuten Wohnen durften weiterhin am Mittagstisch im Restaurant zusammen essen. Allerdings nur, wenn sie sonst das Areal nicht verlassen haben. «Nur eine Person mussten wir zu Beginn ausschliessen, weil sie noch sehr lange mit dem ÖV unterwegs war», erzählt Ursula Baumann.
«Nicht nach draussen zu dürfen, wäre schlimm für mich»
Einen Coronafall gab es im Alterszentrum Suhrhard bis jetzt keinen. Hat jemand vom Personal oder von den Bewohnern Symptome, wird die Person umgehend getestet und isoliert, bis das Resultat vorliegt. Von den vier Frauen am Tisch musste noch keine einen Coronatest machen. Aber sie erzählen von einer Mitbewohnerin, die schon zweimal einen Test machen musste und nicht aus dem Zimmer durfte, bis das negative Testergebnis vorlag. «Sie hat gesagt, es sei halt langweilig gewesen», berichtet eine Frau am Tisch. «Nicht nach draussen zu dürfen, wäre auch schlimm für mich», sagt eine andere Bewohnerin. «Ich würde wahrscheinlich Radio hören, lesen und dann wieder Radio hören und rausschauen.»
Angesprochen auf das Besuchsverbot, erinnert sich eine Bewohnerin daran, dass sie ihre Enkel in der Besucherbox getroffen hat. Erst als Ursula Baumann sie daran erinnert, dass während sechs Wochen gar keine Besuche erlaubt waren, sagt sie: «Stimmt. Aber da hat man sich einfach gefügt.» Eine andere Bewohnerin stellt nüchtern fest: «Man vergisst eigentlich schnell, dass man eingeschränkt war. Wenn die Normalität wiederkommt, denkt man nicht mehr daran, was alles war. Das ist doch interessant.»
Am meisten Mühe hatten die Angehörigen
Diese rückblickende Gelassenheit der vier Bewohnerinnen bestätigt auch eine Umfrage des Spital- und Heimverbands Vaka bei Aargauer Pflegeheimen. Nach Einschätzung der Heimleitungen haben die Bewohner und die Mitarbeitenden die Coronakrise tendenziell besser bewältigt, als die Angehörigen.
«Nicht alle haben regelmässig Besuch»
Ursula Baumann hat im Alterszentrum Suhrhard dasselbe beobachtet. «Die Angehörigen mussten einen Teil ihrer Kontrolle abgeben und zum Teil war es für sie schon dramatisch, wenn sie ihre Liebsten nach so langer Zeit das erste Mal wieder gesehen haben.» Sie erinnert sich an eine Frau, deren Ehemann zuerst längere Zeit im Spital war und anschliessend direkt ins Pflegeheim kam. Sein Zustand habe sich in dieser Zeit deutlich verschlechtert, ohne dass seine Frau das mitbekommen hatte. Entsprechend sei sie erschrocken, als sie ihn zum ersten Mal wiedersah.
Viele Bewohner hätten ihre Angehörigen sehr vermisst, sagt Ursula Baumann. «Aber nicht alle haben regelmässig Besuch, sodass sich für sie durch das Besuchsverbot eher wenig verändert hat.» Dazu komme, dass sich der Alltag der Bewohnerinnen und Bewohner sowieso im Alterszentrum abspiele. «Und der Alltag hat, so weit wie eben möglich, trotzdem stattgefunden.»
Mundschutz verunsichert demente Menschen
Eine Ausnahme seien jene Bewohnerinnen mit fortgeschrittener Demenz. «Für sie war die Zeit im Frühling am schlimmsten. Ihnen fehlte etwas, das spürte man deutlich», sagt Ursula Baumann. Auch die Masken seien im Umgang mit Demenzkranken suboptimal. «Sie achten stark darauf, ob jemand lacht oder nicht. Wegen der Maske fehlt ihnen die Mimik», sagt Janine Härtsch, Bereichsleiterin Pflege und Betreuung im Alterszentrum Suhrhard. Um die Situation zu entspannen, habe sie die Maske manchmal an der Tür kurz ausgezogen, damit die Person ihr Gesicht sehen konnte.
Das Pflegepersonal war und ist bis heute stark gefordert – zumal viele freiwillige Helferinnen ausfielen und ausfallen, weil sie selbst zur Risikogruppe gehören. Klagen mag Janine Härtsch aber nicht; das passt nicht zu ihrem Berufsstand. In der Pflege galt und gilt die grösste Sorge den Bewohnerinnen und Bewohnern; diese sollen nicht krank werden. Klar sei es nicht angenehm, mit Mundschutz jemanden zu duschen. Aber müde gemacht, habe die Mitarbeitenden nicht ihre Arbeit, sondern die ständig neuen Verordnungen und Regeln.
Den Coiffeur haben sie vermisst
Damit auseinandergesetzt haben sich vor allem die Kadermitarbeitenden. Sie mussten sich auf dem Laufenden halten, rasch reagieren und innert kürzester Zeit die Mitarbeitenden, die Bewohnerinnen und Bewohner und die Angehörigen Bescheid informieren – und zwar so, dass sie es im besten Fall verstehen.
Die vier Frauen der Handarbeitsgruppe haben von dieser Hektik offenbar wenig gespürt. «Ich fand es nicht selbstverständlich, dass es so gut funktioniert hat», bemerkt eine von ihnen spontan. Je länger das Gespräch dauert, desto mehr Erinnerungen haben die Bewohnerinnen an die Zeit im Frühling: an die Gottesdienste, die ausgefallen sind, an die netten Herren vom Zivilschutz, an die Zeichnungen der Schulkinder, an die Blumenspenden, an den Strassenlärm, als sie erstmals durch die Besucherfenster ihre Angehörigen wieder sahen und an das Gefühl, als sie zum ersten Mal wieder zum Coiffeur durften. «Da war ich sehr froh. Es ist einfach bequemer, als in der Dusche die Haare zu waschen.»
Es fühle sich langsam schon wieder normaler an, sagt eine von ihnen. «Oder sehe ich das falsch?» Niemand widerspricht.

