Es gebe nichts Schöneres, als Menschen zu beobachten, sagt Altersheimbewohnerin Helena Suter. Karin Hofer / NZZ
Alters- und Pflegeheime,  Erlebtes

«Ich fühle mich wie eingemauert» – für die Corona-Risikogruppe ist die Rückkehr zur Normalität noch weit

Bis ein Impfstoff bereitsteht, könnte es noch lange dauern. Wie gehen Angehörige der Risikogruppe mit dieser düsteren Perspektive um?

Gut besuchte Gartenrestaurants, spielende Kinder, volle Wanderwege: Die Schweiz taut allmählich aus der Corona-Starre auf. Doch für jene Menschen, die der Risikogruppe angehören, ist der Weg zur Normalität noch weit. Sie müssen sich weiterhin besonders schützen und soziale Kontakte meiden, bis ein wirksamer Impfstoff vorhanden ist. Und das kann noch dauern.

Wie lebt es sich mit dieser Perspektive? Wir haben Helena Suter getroffen, die sich im Altersheim eingeengt fühlt und von einem Besuch im Brockenhaus träumt. Wir haben mit Nationalrat Mauro Tuena gesprochen, der wegen seines Diabetes den Kontakt zur Bevölkerung nun nicht mehr wie früher pflegen kann und trotzdem positiv in die Zukunft schaut.

Und wir haben von Wissenschaftern erfahren, was ein Blick in die Augen über das Covid-19-Risiko aussagen kann, wie man die Bedingungen in Altersheimen verbessern könnte und warum wir besser aufhören sollten, das Coronavirus als etwas Einzigartiges zu betrachten.

Herzspezialist Ruschitzka: Nicht nur das Alter zählt

Risikogruppe, was bedeutet das eigentlich? Schon zu Beginn der Epidemie war aufgrund der Daten aus China klar, dass ältere Menschen und Personen mit Vorerkrankungen wie Diabetes, Bluthochdruck oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen besonders gefährdet sind, schwer an Covid-19 zu erkranken. Am Risikoprofil hat sich seither wenig verändert, obwohl man immer mehr über das Virus weiss. Stimmt die anfängliche Einschätzung noch? Gehört man mit dem 65. Geburtstag wirklich automatisch zur Risikogruppe?

Einer, der Antworten dazu hat, ist Frank Ruschitzka. Der Direktor der Klinik für Kardiologie am Universitätsspital Zürich gehört zu jenen Forschern, die das Bild, das wir über das Coronavirus haben, in den letzten Wochen mitgeprägt haben. Zusammen mit Kollegen erkannte Ruschitzka, dass Covid-19 nicht in erster Linie nur eine Lungenkrankheit, sondern wohl vielmehr eine Gefässerkrankung ist, die verschiedene Organe angreift.

Betroffen ist vor allem das Endothel, die innere Schicht der Blutgefässe. Entscheidend für die Risikobeurteilung ist deshalb der Zustand der Gefässe. Aus diesem Grund relativiert Ruschitzka auch die Sache mit dem Alter: Ein Raucher im mittleren Alter, der Diabetes hat und einen hohen Blutdruck, könnte durchaus ein höheres Risiko haben als ein 85-Jähriger, der einigermassen fitte Gefässe hat, aktiv ist und nicht raucht. Das Alter spiele bei Covid-19 zwar eine wichtige, aber längst nicht die einzige Rolle.

Vorerkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck können die Gefässe schädigen, insbesondere dann, wenn man die Krankheiten nicht gut behandelt. Doch wie identifiziert man Risikopatienten, die keine der bekannten Vorerkrankung haben? Zum Beispiel, indem man ihnen tief in die Augen schaut. Gefässschäden liessen sich mit einer Analyse der Netzhaut entdecken, sagt Ruschitzka. Mit Lichtreizen werde untersucht, wie gut die Blutgefässe in der Retina reagierten. Dies lasse dann Rückschlüsse auf den Zustand der Gefässe im ganzen Körper zu. «Ein Blick in die Netzhaut ist auch ein Blick ins Herz», fasst es der Kardiologe zusammen. Diese Methode wolle man in Zukunft auch bei Covid-19-Patienten einsetzen.

Für gesunde Gefässe kann man ein Stück weit aber auch selber sorgen, indem man nicht raucht, sich viel an der frischen Luft bewegt und sich gesund ernährt. Gerade auch für ältere Menschen ist die Bewegung wichtig. «Wenn wir Betagte in ihrem Appartement im Altersheim einsperren, dann kann das nicht die Lösung sein», sagt Ruschitzka. Damit steige nämlich das Risiko für Blutgerinnsel. Und das ist im Hinblick auf eine Covid-19-Erkrankung ein doppeltes Problem, denn auch diese fördert die Entstehung von Thrombosen, wie neue Studien zeigen. Die Betagten sollten deshalb möglichst nach draussen gehen, freilich unter Einhaltung von Abstandsregeln. Denn eine Ansteckung mit dem Virus gelte es selbstverständlich auch zu verhindern.

Wichtig sei aber auch, ihnen die sozialen Kontakte wieder zu ermöglichen. Nicht nur für das Wohlbefinden, sondern auch im Kampf gegen die Folgen des Coronavirus. «Psyche und Herz gehören eng zusammen», sagt der Kardiologe. Stress und Depressionen schädigten nachweislich das Herz, eine schlechte Voraussetzung im Kampf gegen Covid-19.

Ruschitzka plädiert für ein holistisches Behandlungskonzept und dafür, die Betagten nicht fallenzulassen. «Wenn ich höre, wie gewisse Leute die ältere Generation praktisch abgeschrieben haben, dann kann ich das nicht akzeptieren. Wir müssen uns um die älteren Patienten kümmern, alle Register ziehen.» Denn je mehr Menschen gerettet würden, desto mehr verliere Covid-19 seinen Schrecken.

Heimbewohnerin Suter: «Ich fühle mich wie eingemauert»

Helena Suter hat in ihrem Leben gelernt, folgsam zu sein. Als sie aber realisierte, welche Opfer die Corona-Pandemie von den Alterszentrumsbewohnerinnen und -bewohnern abverlangt, regte sich ihr Widerstandsgeist. «Ich fühle mich wie eingemauert», sagt die 79-Jährige. Ihr Gesicht ist fast faltenlos, auch im Geist ist sie jung geblieben. Doch die Nervenkrankheit Polyneuropathie schwächt ihren Körper. Vor einem Jahr ist sie deshalb ins Stadtzürcher Alterszentrum Laubegg umgezogen.

Vor der Ausgangssperre war sie oft draussen unterwegs: in den Brockenhäusern oder auf dem Sechseläutenplatz. Hier setzte sie sich jeweils auf einen Stuhl und beobachtete die Menschen. «Es gibt nichts Schöneres», sagt sie. Mitte März war es damit schlagartig vorbei. Unter Androhung von Sanktionen wurde den Heimbewohnenden strikt untersagt, das Gelände zu verlassen. «Es war wie ein böser Traum», sagt Helena Suter. Im Fernsehen verfolgte sie mit, wie das Coronavirus näher kam. Sie sah die Zustände in Oberitalien, dann im Tessin – «plötzlich war es da».

Von einem Tag auf den anderen wurde es still. Die hellen Kinderstimmen draussen auf der Strasse, das Brummen der Autos, die Flugzeuge waren verstummt. Das war gespenstisch, das Schlimmste aber war das Ausgehverbot, die Vorstellung, ihren Sohn nicht besuchen und nicht unterstützen zu können, falls er angesteckt würde. Wut packte sie, Kindheitserinnerungen tauchten auf: «Jetzt bin ich wieder in einer Situation, in der man einfach über mich verfügt», dachte sie. Helena Suter war ein Verdingkind gewesen.

Ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie in Heimen, sie litt unter religiös verbrämter Gewalt, kam als 11-Jährige in eine Bauernfamilie, wurde ausgebeutet und sexuell missbraucht. Im Zuge der Aufarbeitung der administrativen Versorgung in der Schweiz vor 1981 nahm sie in Bern Einsicht in ihre Akten: Was sie schon immer wusste, bestätigte sich nun. Im Unterschied zu ihr sind viele andere Betroffene trotz offizieller Entschuldigung des Bundesrates und Wiedergutmachung an ihrem Schicksal zerbrochen.

Helena Suter wählte ganz bewusst einen anderen Weg: Nach jahrelangen Depressionen und Panikattacken trug sie mit psychiatrischer Hilfe die traumatisierenden Schichten ab. Ein heiterer, auch ein rebellischer Wesenskern kam zum Vorschein. Dieser weckt Widerstände gegen das Corona-bedingte Besuchs- und Ausgehverbot. «Plötzlich hiess es, wir Älteren gehörten zur Risikogruppe, aber ich möchte doch gar nicht in dieser Rolle sein. Der Preis, uns zu schützen, ist enorm hoch», sagt sie.

Die Diskussion, wer noch Intensivmedizin erhalten sollte, falls die Beatmungsgeräte nicht mehr reichen würden, hat sie seltsam berührt: «Mein Leben hat sich zum Guten gewendet, gerne möchte ich noch ernten. Aber vom Kopf her ist natürlich klar, dass der Jüngere mit der längeren Lebenserwartung Vorrang hätte. Im Grunde ist es jedoch ein totaler Widerspruch, uns dermassen zu behüten, aber sobald die Ressourcen knapp werden, zu sagen: Jetzt seid ihr nicht mehr viel wert.»

Das Durchschnittsalter der Bewohnerinnen und Bewohner des städtischen Alterszentrums Laubegg ist über 90 Jahre. Die meisten erinnert das strenge Regime an den Zweiten Weltkrieg, als man die Fenster verdunkeln und ebenfalls drinnen bleiben musste. Sie halten sich daran. Andere setzten sich vor allem am Anfang darüber hinweg und wurden bestraft: Wer sich nicht ans Ausgehverbot hält, muss während zehn Tagen im Zimmer bleiben und für die zusätzlichen Serviceleistungen zehn Franken pro Mahlzeit bezahlen. Für rund die Hälfte der 74 Heimbewohnenden, die auf Ergänzungsleistungen angewiesen sind, wäre das einschneidend.

Hat sich auch Helena Suter über das Ausgehverbot hinweggesetzt? Energisch schüttelt sie den Kopf. Als sie nach einem ersten Impuls den Verstand eingeschaltet habe, sei ihr klargeworden, dass das Virus keinesfalls ins Heim getragen werden dürfe, auch zum Schutz der Pflegenden, hält sie fest. Die Vorgabe der kantonalen Gesundheitsdirektion trägt sie mit, und sie erklärt skeptischen Mitbewohnerinnen die guten Gründe dafür. Aber nicht aus Angst davor, angesteckt zu werden, sondern aus Verantwortungsgefühl gegenüber der ganzen Gesellschaft.

Sie akzeptiert deshalb, dass das Heimpersonal Masken trägt und die Heimbewohnenden nur noch zu zweit an einem Tisch essen dürfen. Überhaupt nicht anfreunden kann sie sich hingegen mit der in der Cafeteria geschaffenen Besuchszone. Es behagt ihr nicht, ihrem Sohn so begegnen zu müssen. Sie ist froh, mit ihm skypen und mailen zu können.

Viele Mitwohnende können die modernen Kommunikationsmöglichkeiten nicht nutzen. Vor allem kognitiv eingeschränkte Heimbewohnende sind auch mit den Plexiglaswänden in der Besuchszone überfordert. Der Heimleiter Floris Tschurr berichtet von einem demenzkranken Vater, den die Situation dermassen irritierte, dass er seinen Sohn hinter der Scheibe nicht mehr erkannte. Auch der Ehemann einer kognitiv eingeschränkten Bewohnerin, der nicht mehr mit ihr im Speisesaal essen darf, kann seine Frau kaum mehr erreichen.

«Wir würden gerne individuelle Lösungen anbieten, es braucht aber ein koordiniertes Vorgehen», sagt Tschurr. Intensive Gespräche zwischen den behördlichen Pandemiestäben, Ethikern und Epidemiologen seien im Gang. Weil jedoch die Entscheidungshoheit bei der kantonalen Gesundheitsdirektion bleibe, müsse man aus der Situation das Beste machen.

Wie andere Heime hat auch das Alterszentrum Laubegg die internen Aktivierungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten stark ausgebaut. Zudem nimmt sich das Personal mehr Zeit für Gespräche mit den Heimbewohnenden. Tschurr geht mit gutem Beispiel voran und wird nicht müde, auch Angehörigen zu erklären, weshalb die Kontaktmöglichkeiten weiterhin eingeschränkt sind. Wüste Szenen hat er bis jetzt nicht erlebt.

Vorerst arrangiert sich Helena Suter mit der Situation. Sie nutzt die Zusatzangebote, der Austausch ist jedoch mit vielen Mitwohnenden schwierig. Sie pflegt ihn trotzdem. Kürzlich stand eine Bewohnerin bereit am Ausgang. Sie hatte den Mantel angezogen, wusste aber nicht mehr, wo sie war. Helena Suter sprach sie an und begleitete sie zurück auf die Pflegeabteilung. Unlängst starb dort eine Frau mit einem grossen Bekanntenkreis. Wegen Corona konnte ein Sohn aus dem Ausland nicht anreisen, und die übrigen Angehörigen mussten sich mit Schutzmasken bewehrt von ihr verabschieden.

Sie habe es vergleichsweise gut, sagt Helena Suter. Sie müsse sich nicht helfen lassen, sondern könne helfen. Das stärkt sie. Als sie noch nicht im Alterszentrum wohnte, hatte sie sich im freiwilligen Besuchsdienst einteilen lassen. Manche Heimbewohnende vertrauten ihr sehr persönliche Geschichten an. Eine Frau erzählte von sexuellem Missbrauch. Nicht einmal die Kinder wussten davon, bei Helena Suter war das Erlebte gut aufgehoben. Sie kann immer noch sehr genau zuhören. Lästert jemand übers Essen, denkt sie nur: «Das ist einfach ein unzufriedener Mensch.» Fällt ihr die Decke auf den Kopf, geht sie hinaus in den Garten, betrachtet den leuchtenden Mohn und hört den Vögeln zu.

«Wissen Sie, wohin ich gehe, wenn wir wieder Ausflüge machen dürfen? Ich werde meinen altbekannten Taxifahrer anrufen und ins Brockenhaus Arche in Schlieren fahren. Dort werde ich stöbern und mich überraschen lassen.» Vielleicht ist das schon bald wieder möglich. Das Ausgangsregime in den Heimen des Kantons Zürich wird zunehmend gelockert.

Altersmedizinerin Bischoff: eine Green Card für Senioren

«Die Verunsicherung unter der älteren Bevölkerung ist gross», sagt Heike Bischoff-Ferrari, die Chefärztin der universitären Klinik für Akutgeriatrie an den Zürcher Stadtspitälern Waid und Triemli. Das hänge mit den ständig wechselnden Empfehlungen zusammen. «Man soll spazieren gehen, aber auch zu Hause bleiben. Man kann Enkel umarmen, aber nicht hüten. Es ist schwierig, sich darauf einen Reim zu machen.» Und dazu komme die Angst vor einer Ansteckung. Wenn 70 Prozent der Opfer des Coronavirus in der Schweiz über 80 Jahre alt seien, dann wirkten diese Zahlen auf die Menschen in diesem Alterssegment natürlich sehr bedrohlich.

Individuell könne das Risiko aber sehr unterschiedlich sein. «Wir haben in der Schweiz insbesondere bei den Jüngeren im Alterssegment der über 65-Jährigen viele gesunde und fitte Menschen.» Die Altersmedizinerin plädiert deshalb dafür, dass man die Hausärzte bei der Risikoeinschätzung eine Rolle spielen lässt. «Vielleicht wäre es gut, wenn sich ältere Menschen bei ihrem Hausarzt ein Risikoprofil erstellen lassen könnten und eine Art Green Card bekämen, wenn sie ein eher tieferes Risiko haben.»

Da uns das Virus wohl noch länger begleite, sei es wichtig, nun auch längerfristige Konzepte zu entwickeln, gerade auch für die Besuchsregelungen in den Alters- und Pflegeheimen. Doch die Institutionen stehen vor einem Dilemma: Selbst wenn ein einzelner Bewohner bereit ist, ein gewisses Ansteckungsrisiko für sich in Kauf zu nehmen, gilt es immer auch das Umfeld zu schützen.

Während in der Akutphase Kontakte mit Angehörigen nur getrennt durch Plexiglasscheiben und über das Telefon und Internet stattfinden konnten, ermöglichen die Pflegezentren der Stadt Zürich zum Beispiel wieder eine persönliche Art des Kontakts. Dieses Konzept unterstützt Bischoff-Ferrari. So wurden grosse Besuchszimmer eingerichtet, in denen man sich unter Einhaltung der Abstandsregeln auch ohne Maske begegnen kann. Auch Treffen an der frischen Luft wären denkbar.

Besonders schwierig sei die Situation aber bei Menschen mit Demenz. «Der physische Kontakt ist für sie extrem wichtig. Fällt dieser weg, verschlechtert sich auch ihr Zustand.» Die Altersmedizinerin könnte sich vorstellen, dass Angehörige von Demenzkranken allenfalls direkt in deren Zimmer gebracht werden könnten – freilich unter strenger Beachtung der Hygienerichtlinien. Voraussetzung wäre, dass Patient und Angehörige keine Symptome haben und die Angehörigen gut informiert werden. Auch hier seien Konzepte in den Pflegezentren der Stadt Zürich bereits etabliert.

Für ältere Menschen, die noch zu Hause leben, sei die Sache etwas einfacher. «Als Altersmedizinerin macht es mir aber besonders Sorgen, wenn ich sehe, wie ältere Menschen zum Teil gesellschaftlich ausgegrenzt werden.» So komme es immer wieder vor, dass ältere Menschen öffentlich angepöbelt und aufgefordert würden, nach Hause zu gehen. «Dabei gibt es Menschen mit erhöhtem Risiko in allen Altersstufen.»

Um erfolgreich aus dieser Krise zu kommen, brauche es die ganze Gesellschaft. Das wichtigste Mittel sei, die Infektionszahlen tief zu halten, «und dazu können wir alle beitragen, indem wir die Abstandsregeln einhalten und im öffentlichen Verkehr, wo das in der Regel nicht möglich ist, Masken aufsetzen».

Diabetiker Tuena: «Ich kann nicht klönen»

Mauro Tuenas Stimme schallt aus dem Handy: Er habe jetzt wahrscheinlich schon jedem Journalisten in der Schweiz erklärt, dass er wirklich nicht an dieser angeblichen Party der eidgenössischen Parlamentarier gewesen sei, an der die Abstandsregeln offenbar nicht eingehalten wurden. «Man will mir das fast nicht glauben», sagt der Zürcher SVP-Nationalrat entnervt. Aber er könne die Sache belegen, er habe sich nämlich um ein Bewegungsprofil bemüht, das zeige, dass er zum Zeitpunkt der Party in der Bern-Expo im Hotel beim Bundeshaus gewesen sei.

Der Grund, warum die Journalisten Tuena ins Visier genommen haben: Der Präsident der Stadtzürcher SVP ist bekannt dafür, dass er kaum je einen geselligen Anlass auslässt. Ja selbst mit politischen Gegnern trifft er sich nach geschlagener Schlacht gerne auf ein Bier, um weiter zu politisieren.

Der Grund, warum Tuena selbst bei einer weiteren Lockerung grösseren Anlässen vorerst eher fernbleiben wird: Der Nationalrat gehört zur Covid-19-Risikogruppe. Aber das sieht man dem 48-Jährigen natürlich nicht an.

Wir treffen ihn ein paar Tage nach dem Telefonat auf dem Sechseläutenplatz. Er sitzt in der Gartenwirtschaft bei einem Gipfeli und Cola Zero. Etwas Kohlenhydrate müssen sein, aber eben nicht zu viele aufs Mal, erklärt Tuena seinen eigenartigen Znüni. Denn er ist Diabetiker. Damit gehört er zu jenen Personen, die gefährdet sein sollen, schwerer an Covid-19 zu erkranken. Ausgerechnet er, der stets den Kontakt mit der Bevölkerung sucht, muss nun Menschen meiden. Ausgerechnet er, der von sich selbst sagt, «ich bin eigentlich nie zu Hause, höchstens zum Schlafen», hat sich während Wochen in seine eigenen vier Wände zurückgezogen.

Nachbarn kauften für ihn ein, stellten ihm die Lebensmittel vor der Türe ab, «diese Solidarität hat mich extrem beeindruckt», sagt er. Sein Job hat ihn von der Isolation abgelenkt. Drei Wochen lang habe er fast durchgearbeitet. Tuena ist Mitinhaber eines kleinen Informatikunternehmens. «Alle Betriebe brauchten Einrichtungen fürs Home-Office.» Zu Kunden ist er nur gegangen, wenn die Büros leer waren. Jemand habe ihm einmal den Eingangsschlüssel aufs Autodach gelegt, um einen unnötigen Kontakt zu vermeiden.

«Am Anfang war ich schon sehr vorsichtig», sagt Tuena. Und er machte sich auch Sorgen. Er wollte sich unbedingt auf Covid-19 testen lassen, obschon er gar keine Symptome hatte. Keine Geringere als die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli, eine langjährige politische Weggefährtin von Tuena, konnte ihn dann aber beruhigen und davon überzeugen, dass ein Test nicht nötig war.

Von der damaligen Anspannung ist ihm jetzt im Boulevardcafé auf dem Sechseläutenplatz nichts mehr anzusehen. Seit die Ansteckungsraten so drastisch gesunken sind, geht er wieder selber einkaufen, trifft auch einzelne Leute – freilich mit dem gebührenden Abstand. Auf Fahrten mit dem öffentlichen Verkehr verzichtet er aber noch. Und er setzt sich auch keine Insulinspritzen in der Öffentlichkeit. «Ich will nicht wie ein Aussätziger behandelt werden», sagt er. Die Leute seien zum Teil übervorsichtig mit Menschen, die der Risikogruppe angehören, scheuten jeglichen Kontakt.

Dabei fühlt sich Tuena gar nicht, als sei er besonders gefährdet. «Mein Diabetes ist gut eingestellt.» Zum Beweis hält er sein Handy an die kleine Ausbuchtung, die sich an seinem Oberarm unterm Sakko abzeichnet. «Das ist der Sensor», erklärt er. Sein Handy piepst. «Sieben Komma neun», liest er vom Display ab. «Das ist nach dem Gipfeli noch in Ordnung.» Abgesehen von seiner Zuckerkrankheit, die ihn seit 42 Jahren begleitet, sei er kerngesund.

Dass er nun trotzdem einem etwas grösseren Risiko ausgesetzt ist, dessen ist er sich bewusst. «Aber ich bin gewöhnt daran, mit Risiken zu leben.» So habe er als Diabetiker auch ein erhöhtes Risiko, einen Herzinfarkt zu erleiden. Zudem habe es auch bis jetzt schon zu seinem Alltag gehört, auf gewisse Dinge achten zu müssen, wie seinen Blutzuckerspiegel. «Nun sind halt noch Abstands- und Hygieneregeln dazugekommen.» Aber diese Einschränkungen hätten andere Leute auch.

Für die politische Arbeit seien die behördlichen Anordnungen jedoch ein Problem. Virtuelle Sitzungen und auch der Online-Stammtisch der SVP funktionierten zwar gut, «aber die politische Debatte hat nicht die gleiche Qualität». Hierfür müsse man noch Lösungen finden, gerade auch im Hinblick auf die anstehenden Abstimmungen im September. Davon abgesehen sei im gesellschaftlichen Leben aber wieder mehr möglich.

Mindestens aus ganz persönlicher Sicht schaut Tuena deshalb positiv in die Zukunft: «Ich kann nicht klönen.» Er sei gesund, habe Arbeit und könne sich nun auch wieder mit gewissen Einschränkungen mit Freunden treffen. «Verglichen mit jenen Menschen, die nun wegen der Krise um ihre wirtschaftliche Existenz bangen müssen, die vor dem Nichts stehen, bin ich in einer glücklichen Lage.» Trotzdem werde er an Silvester wohl eine negative Jahresbilanz ziehen, «ein Jahr zum Vergessen». In 24 Jahren Parlamentsarbeit habe er sich stets für das Gewerbe und für gesunde Staatsfinanzen eingesetzt. Viele der Erfolge habe die Corona-Krise nun weggefegt. «Am wirtschaftlichen Schaden werden wir noch Jahre, ja gar Jahrzehnte zu kauen haben.»

Ethikerin Biller-Andorno: raus aus dem mentalen Lockdown

Nikola Biller-Andorno hatte durchaus noch Verständnis dafür, dass der Staat am Anfang der Krise mit rigiden Massnahmen reagierte. Denn damals sei vieles unklar gewesen und habe der Schutz der Gesundheit an oberster Stelle gestanden, sagt die Direktorin des Instituts für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte der Universität Zürich. Nun, da wir auf dem Weg von einer akuten in eine chronische Phase seien, sei es aber an der Zeit, dass wir uns gerade auch in Bezug auf die Risikogruppen einige Fragen stellen.

«Wie können wir dafür sorgen, dass das Virus möglichst wenig Schaden anrichtet?» Und dies eben nicht nur in Bezug auf die Gesundheit, sondern auch auf andere Güter, die unser Leben wertvoll machen, wie beispielsweise unsere Freiheitsrechte. «Schützen wir die Risikogruppe wirklich am besten, wenn unser einziges Ziel darin besteht, ihr Leben maximal zu verlängern? Was haben wir davon, wenn die Leute zwar nicht erkranken, sie aber keine Freude mehr am Leben haben, weil ihnen der Austausch mit den Angehörigen fehlt?»

Es sei dringend nötig, die Betroffenen in diese Fragen mit einzubeziehen. «Wir müssen wissen, was ihnen wichtig ist.» Den Altersheimen und ihren Bewohnern sei wieder eine grössere Entscheidungshoheit einzuräumen.

Biller-Andorno zieht den Vergleich zur Entscheidungsfindung in der Medizin. Dabei entscheiden Patienten oder auch gesunde Menschen, wie sie im Fall einer schweren Erkrankung behandelt werden wollen und ob beispielsweise lebensverlängernde Massnahmen ergriffen werden sollen. «Früher hat man gesagt, das soll der Arzt entscheiden, heute kann der Patient mitbestimmen.» So müssten auch Betagte mitentscheiden können, welches Risiko sie in Bezug auf eine Ansteckung in Kauf nehmen wollten. Darunter gebe es sicher auch jene, die sich möglichst gar keinem Risiko aussetzen wollten. Das müsse man selbstverständlich respektieren und sie so weit wie möglich isolieren, wenn sie das wollten.

Jüngeren Personen mit einer Vorerkrankung müsse es dagegen gelingen, die Risiken in ihr Leben zu integrieren, so wie man das auch sonst tue. Wenn man mit dem Auto zur Arbeit fahre, bestehe ja auch die Gefahr, schwer zu verunfallen. Sie wolle die Sache nicht kleinreden, natürlich sei die Covid-19-Erkankung ernst zu nehmen. «Aber ich glaube, es täte uns gut, wenn wir aufhörten, das Coronavirus als etwas Einzigartiges zu betrachten, sondern lernten, es als ein Lebensrisiko unter vielen anderen zu verstehen.»

Und dabei gelte es, auch die Schutzmassnahmen kritisch auf Verhältnismässigkeit und Konsistenz zu prüfen, so wie dies nun langsam wieder passiere. «Wie weit wollen wir es dem Staat erlauben, in unsere Privatsphäre einzudringen? Welche wirtschaftlichen Schäden wollen wir in Kauf nehmen? Welche neuen Vulnerabilitäten schaffen wir mit den Schutzmassnahmen?» Jetzt, da uns allmählich bewusst werde, dass uns das Virus noch länger begleiten wird, müssten wir auch aus dem mentalen Lockdown herausfinden.

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